Philosophisches Lektüreseminar in der Waldhofakademie Freiburg

Donnerstag, 2. – Sonntag, 5. September 2021

Ein philosophisches Lektüreseminar in der Waldhof-Akademie Freiburg

Kunst ist Nachahmung der Natur
Licht und Zahl als Strukturmomente der mittelalterlichen Kathedralen und ihrer modernen Erben

Prof. Dr. Regine Kather, Freiburg

Betrachtet man das Zusammenspiel der Lebewesen in einem Ökosystem, die Rhythmik von Ebbe und Flut oder die Bewegung der Planeten am ‚bestirnten Himmel über uns’, dann fällt vor allem eines auf: Viele Prozesse wiederholen sich mit großer Regelmäßigkeit und sind in komplexer Weise räumlich und zeitlich aufeinander abgestimmt. Dass die Ordnung der Natur nicht nur eine mentale Konstruktion sein kann, zeigt sich bei jeder Naturkatastrophe: Chaotische Zustände sind lebensfeindlich – in physischer wie sozialer Hinsicht. Offensichtlich, so schlossen schon die antiken Denker, gibt es im Kosmos eine Ordnung, die nicht von Menschen erzeugt wurde.
Trotz der Verschiedenheit der Erklärungsversuche, die über die Jahrhunderte hinweg entwickelt wurden, begegnen wir immer wieder einem Gedanken: Symmetrien und Proportionen, davon waren Platon und seine Erben, die Erbauer der Kathedralen ebenso überzeugt wie viele moderne Naturwissenschaftler, sind die Ursache für die Entwicklung des Universums und des Lebens auf diesem Planeten. Nur Menschen sind freilich in der Lage, bewusst nach dem Ursprung dieser Ordnung und ihrer Bedeutung zu suchen und ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen: in Wort und Schrift, in Mythen und Gedichten, in Mathematik, Musik und Architektur. Die Strahlkraft, die die Architektur der Kathedralen bis heute ausübt, verdankt sich der einzigartigen Verbindung von Mathematik, Kunst und Naturphilosophie mit der Suche nach einer zeitlos gültigen Wahrheit: ‚Kunst sei Wissenschaft‘ und ‚Kunst sei Nachahmung der Natur‘, so hieß es. Begründet ist diese Synthese in der platonischen Lehre, die das Leben als einen Aufstieg aus der Befangenheit in Meinungen und Trugbilder zum klaren Licht der Erkenntnis deutete und der biblischen Tradition, wonach ‚alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet‘ war. Da die Natur als göttliche Schöpfung galt, sollte deren künstlerische Darstellung auch für die zahllosen nicht des Lesens mächtigen Menschen ganz praktisch als eine Art ‚Handleitung‘ auf dem Weg zur Wahrheit dienen. Das Gefühl, durch das Spiel von Licht und Dunkelheit und das Arrangement der Säulen irgendwie dem irdischen Leben entrückt und regelrecht emporgezogen zu werden, löst bei vielen modernen Betrachtern eine seltsame Mischung von Abwehr und Faszination aus. Sie war von den Erbauern durchaus gewollt.
Als Einstieg in das Verständnis dieses Gedankens bietet sich daher die Lektüre von Platons ‚Höhlengleichnis‘ an: Es bildet nicht nur den entscheidenden Hintergrund für die Symbolik von Licht und Zahl in der Architektur der Kathedralen; es ist außerdem nach wie vor ein zeitlos gültiges Sinnbild für das Bemühen um Orientierung. Derart vorbereitet soll dann die Architektur der Kathedralen genauer betrachtet werden.
Die Bedeutung von Licht und Zahl lebte, wenngleich in anderer Weise, auch nach dem Mittelalter weiter: Der goldene Schnitt findet sich, so wissen wir heute, tatsächlich in zahlreichen natürlichen Formen, von Kiefernzapfen bis zu Sonnenblumen. Die Optimierung von Stabilität und Funktionalität verbindet sich auch hier mit der genuin menschlichen Freude an ihrer Schönheit. Aber auch in der Architektur leben die mittelalterlichen Gestaltprinzipien in moderner Form weiter: Ein herausragendes Beispiel ist die Kirche von Le Corbusier am Südrand der Vogesen, jenes Zusammenspiel aus Holz, Beton und farbigem Glas.
Die Frage nach der Bedeutung von Proportionen, von Zahl und Maß in Natur wie Architektur wird uns immer wieder zu einer Diskussion über deren Bedeutung für das moderne Leben insgesamt einladen. Während es im Mittelalter zwar schwierig, aber dennoch selbstverständlich war, dass sich Menschen in eine nicht von ihnen gemachte Ordnung einfügen, dominiert in der Gegenwart die Überzeugung, dass letztlich der Mensch das Maß aller Dinge sei. Im Spiegel dieser schon von Platon kritisierten Position gewinnt die Auseinandersetzung mit Licht und Zahl auch für uns eine über die ästhetische Betrachtung hinausführende lebenspraktische Dimension.

Literatur:
Platon: Höhlengleichnis, in: Platon, Der Staat: 7. Buch, 514a – 521 a.
Otto v. Simson: Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung,  WBG Darmstadt 1972. 
Bei besonderem Interesse:
Emile Male: Die Gotik. Kirchliche Kunst des XIII. Jahrhunderts, Stuttgart 1986.
R. Stelzner: Der goldene Schnitt. Das Mysterium der Schönheit. 
Eine naturwissenschaftlich-philosophische Abhandlung, München 2003.  (vgl. Internet: www.golden-section.eu)

Die Dozentin: 
Regine Kather, * 1955, Studium der Philosophie, Physik und Religionswissenschaften, Promotion und Habilitation in Philosophie, seit 1985 Lehrtätigkeit zunächst in der Erwachsenenbildung insb. an der PH Freiburg und für Kulturredaktionen des Rundfunks, seit 1997 auch an der Universität Freiburg, dort seit 2004 als Professorin. Autorin von zahlreichen Artikeln und mehreren Büchern, die immer wieder eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und zwischen den einzelnen Epochen schlagen: u.a. Was ist Leben? (2003), Person (2007) und die Wiederentdeckung der Natur (2012).

Seminarzeiten:
Donnerstag: 16.30 – 18.00 und 19.30 – 20.30

Freitag und Samstag: 09.30 – 10.30 / 11.00 – 12.00 und 16.00 – 18.00, 
abends Gesprächskreis, fakultativ

Sonntag: 09.30 – 10.30 / 11.00 – 12.00

Kursgebühr:
180.-  €

Anmeldung:
Waldhof e.V.- Akademie für Weiterbildung
Im Waldhof 16
D-79117 Freiburg-Littenweiler
Tel.: +49 (0)761 – 67134
Fax: +49 (0)761 – 66584
www.waldhof-freiburg.de

In Zusammenarbeit mit:
Annegret Wolfram, 0711-2367813, www.literaturferien.de

Waldhof e.V.- Akademie für Weiterbildung