Monatsgedicht
Januar
Im Neuen Jahr
grüße ich
meine nahen und
fernen Freunde
Grüße die
geliebten Toten
Grüße alle
Einsamen
Grüße die Künstler
die mit
Worten Bildern Tönen
mich beglücken
Grüße die
verschollenen Engel
Grüße mich selber
mit dem Zuruf
Mut!
Rose Ausländer
Dezember
Der Engel
Mit einem Neigen seiner Stirne weist
er weit von sich was einschränkt und verpflichtet;
denn durch sein Herz geht riesig aufgerichtet
das ewig Kommende das kreist.
Die tiefen Himmel stehn ihm voll Gestalten,
und jede kann ihm rufen: komm, erkenn –.
Gib seinen leichten Händen nichts zu halten
aus deinem Lastenden. Sie kämen denn
bei Nacht zu dir, dich ringender zu prüfen,
und gingen wie Erzürnte durch das Haus
und griffen dich als ob sie dich erschüfen
und brächen dich aus deiner Form heraus.
Rainer Maria Rilke
November
Der Winter
Das Feld ist kahl, auf ferner Höhe glänzet
Der blaue Himmel nur, und wie die Pfade gehen,
Erscheinet die Natur, als Einerlei, das Wehen
Ist frisch, und die Natur von Helle nur umkränzet.
Der Erde Stund ist sichtbar von dem Himmel
Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben,
Wenn hoch erscheint von Sternen das Gewimmel,
Und geistiger das weit gedehnte Leben.
Friedrich Hölderlin (1770-1843)
Oktober
Erich Kästner
Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Was vorüber schien, beginnt.
Chrysanthemen blühn und frieren.
Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Und du folgst ihr wie ein Kind.
Geh nur weiter, bleib nicht stehen.
Kehr nicht um, als sei’s zuviel.
Bis ans Ende musst du gehen,
hadre nicht in den Alleen.
Ist der Weg denn schuld am Ziel?
Geh nicht wie mit fremden Füßen
und als hättst du dich verirrt.
Willst du nicht die Rosen grüßen?
Lass den Herbst nicht dafür büßen,
dass es Winter werden wird.
Auf den Wegen, in den Wiesen
leuchten, wie auf grünen Fliesen,
Bäume bunt und blumenschön.
Sind’s Buketts für sanfte Riesen?
Geh nur weiter, bleib nicht stehn.
Blätter tanzen sterbensheiter
ihre letzten Menuetts.
Folge folgsam dem Begleiter.
Bleib nicht stehen. Geh nur weiter,
denn das Jahr ist dein Gesetz.
Nebel zaubern in der Lichtung
eine Welt des Ungefährs.
Raum wird Traum. Und Rausch wird Dichtung.
Folg der Zeit. Sie weiß die Richtung.
„Stirb und werde!“ nannte er’s.
September
Wieder September
Ikonenfarben: Blauer Himmel
Und Apfelrot im grünen Baum.
Davor ikonenecht: ein Schimmel.
Der grast und lebt. Hat keinen Zaum
Und keinen Recken zu ertragen.
Kein Krieg um Gott zwingt ihn zum Stolz.
Septembertag, mit Gold beschlagen.
Und wie gemalt auf altes Holz.
Eva Strittmatter (1930-2011)
August
Windgeschenke
Die Luft ein Archipel
von Duftinseln.
Schwaden von Lindenblüten
und sonnigem Heu,
süß vertraut,
stehen und warten auf mich
als umhüllten mich Tücher,
von lange her
aus sanftem Zuhaus
von der Mutter gewoben.
Ich bin wie im Traum
und kann den Windgeschenken
kaum glauben.
Wolken von Zärtlichkeit
fangen mich ein,
und das Glück
beißt seinen kleinen Zahn
in mein Herz.
Hilde Domin
Juli
Georg Herwegh
Nicht einen Hauch vergeuden sie, nicht Einen,
Nein, Alles wird gleich für den Markt geboren,
Kein Herzensschlag geht ohne Zins verloren,
Die Herren machen Brot aus ihren Steinen.
Sie machen Brot aus Lachen und aus Weinen –
Ich hab‘ mir die Beschaulichkeit erkoren,
Und niemals streng gerechnet mit den Horen,
Ich denke fromm: „Gott gibt’s im Schlaf den Seinen!“
Ich kann des Lebens banggeschäftig Rauschen,
Dies laute Tun und Treiben nicht verstehn,
Und möcht‘ mein einsam Glück nicht drum vertauschen.
Laßt mich die stillen Pfade weiter gehn,
Der Wolken und der Sterne Zug belauschen,
Und schönen Kindern in die Augen sehn!
Juni
Die Tage
Die Tage suchen einsam ihre Stühle
Und sitzen nieder ohne Blick noch Wort.
Der Abend weht. Sie schauern in der Kühle,
Verhüllen sich, stehn auf und schreiten fort.
Doch mancher war, der nicht gelassen blieb,
Der lachend, weinend durch die Stunden tollte,
Mich unbedacht in Gram und Jauchzen trieb
Und zuckend festhielt, als er wandern sollte.
Nur einer kam – im Kleid wie Gras und Sand
– Er trällerte ein rotes Liebeslied,
Nahm, da es Zeit war, lächelnd meine Hand
Und legt‘ ein kleines Licht hinein und schied.
Gertrud Kolmar
Mai
In Vorfreude auf das Shakespeare-Seminar am Bodensee
Sonett 78
So oft have I invoked thee for my Muse,
And found such fair assistance in my verse,
As every alien pen hath got my use,
And under thee their poesy disperse.
Thine eyes, that taught the dumb on high to sing,
And heavy ignorance aloft to fly,
Have added feathers to the learned’s wing,
And given grace a double majesty.
Yet be most proud of that which I compile,
Whose influence is thine, and born of thee:
In others’ works thou dost but mend the style,
And arts with thy sweet graces graced be;
But thou art all my art, and dost advance,
As high as learning, my rude ignorance.
So oft ich dich als Muse angefleht,
Gabst du mir Beistand, und so überreichen,
Dass jeder Dichter meinen Pfad jetzt geht
Und seine Kunst vertreibt in deinem Zeichen.
Dein Auge hat des Stummen Mund entsiegelt,
Zu höchstem Flug den dumpfen Sinn gelenkt,
Es hat des Meisters Schwingen selbst beflügelt
Und Anmut mit Erhabenheit beschenkt.
Dein höchster Stolz doch sei in meinen Tönen,
Die gänzlich dein sind, Kinder deiner Gunst;
Bei andern kannst du nur die Form verschönen
Und höchste Zierde leihen ihrer Kunst,
Doch meine ganze Kunst bist du! Du weihst
Zum Höchsten meinen ungelenken Geist.
(Übersetzung: Schlegel-Tieck)
Sooft ich dich als meine Muse rief
fand ich für meinen Vers bei dir Gehör
wie jeder, der in deinem Schatten lief
und sich bemühte, dass er dich betör.
Dein Anblick, der den Stummen selbst Gesang
und auch den Dummen hohen Flug verrät,
verleiht auch fremden Federn Flügels Rang,
und ihrer Anmut höchste Majestät.
Jedoch dein größter Stolz sei stolz auf mich,
auf meinen Vers, der dir entspringt so rein,
veredelst du auch fremder Feder Strich
und gehst voll Huld sehr huldvoll auf sie ein.
Denn du bist mein Genie, und deine Gunst
allein macht mir mein kunstlos Werk zu Kunst.
(Übersetzung: Karl Bernhard
April
Eva Strittmatter
Möglichkeit
Keinen kenne ich, der den Gesetzen entkam,
die unser Leben bestimmen.
Auch wer allen Willen zusammennahm,
musste stromabwärts schwimmen.
Noch jeden Resignation befallen,
wenn ihn das Alter ereilt.
Wie sehr er sich unterschied von allen:
das wars, was er mit ihnen teilte.
Ich kenne auch keinen versöhnlichen
Gedanken gegen den Zwiespalt des Lebens:
keinen Eingott, keinen Allgott, keine Ideologie.
Lang mühte ich mich vergebens,
ein Gesetz zu finden, das etwas erklärt
oder rechtfertigt wenigst in Teilen.
Doch was man lebend erlebt und erfährt,
lässt sich mit Glauben nicht heilen.
Auch mit Denken kaum. Doch will ich mich nicht
der Resignation ergeben.
Noch fühle ich als Verpflichtung das Licht
und als Möglichkeit das Leben.
März
Gesetzt den Fall, ihr habt ein Schaf gekränkt –
(„Gesetzt den Fall“ heißt „Nehmen wir mal an“) –
Gesetzt den Fall, es hat den Kopf gesenkt
und ist euch böse – ja, was dann?
Dann solltet ihr dem Schaf was Liebes sagen,
ihr könnt ihm auch dabei den Rücken streicheln,
ihr dürft nicht „Na? Warum so sauer?“ fragen,
ihr müsst dem Schaf mit Freundlichkeiten schmeicheln.
Sagt mir jetzt nicht: „Ich wohn doch in der Stadt,
wo soll ich da um Himmelswillen Schafe kränken?“
Ich gebe zu, dass das was für sich hat,
doch bitte ich euch trotzdem zu bedenken:
Ein gutes Wort ist nie verschenkt,
nicht nur bei Schafen, sondern überall.
Auch trefft ihr Schafe öfter, als ihr denkt.
Nicht nur auf Wiesen. Und nicht nur im Stall.
(Na wo denn noch?)
Robert Gernhardt
Februar
Über den Gartenzaun gesprochen
Der Ursprung von drei Weltreligionen
eine Dünendrift aus verminten Zonen –
Da empfiehlt es sich schon
in gemäßigten Ländern
durch ein selbstverfasstes Idyll zu schlendern.
Während ich – schaut nur hin –
meine Blümchen tränke,
wieder Mordsradau in
der Dreigöttersenke –
die ballern uns noch den Erdball entzwei
wegen ihrer dreierlei Rechthaberei.
Unverbindlicher Wink übern Gartenzaun:
Bloß nicht ewig den eigenen Götzen vertraun,
und sich statt an Gebetsbüchern
dumm zu lesen:
Hier sind Hacke,
Harke,
Schaufel und Besen,
und nach zwei drei Jahren erblüht für jeden
vor der eigenen Haustür ein Garten Eden.
Peter Rühmkorf
Januar
Zum Neujahr
An tausend Wünschen federleicht,
Wird sich kein Gott noch Engel kehren.
Ja, wenn es soviel Flüche wären,
Dem Teufel wären sie zu seicht.
Doch wenn ein Freund in Lieb und Treu
Dem andern den Kalender segnet,
So steht ein guter Geist dabei.
Du denkst an mich, was Liebes dir begegnet,
Ob dirs auch ohne das beschieden sei.
Eduard Mörike