Monatsgedicht

Juli

Georg Herwegh

Nicht einen Hauch vergeuden sie, nicht Einen,
   Nein, Alles wird gleich für den Markt geboren,
   Kein Herzensschlag geht ohne Zins verloren,
Die Herren machen Brot aus ihren Steinen.

Sie machen Brot aus Lachen und aus Weinen –
   Ich hab‘ mir die Beschaulichkeit erkoren,
   Und niemals streng gerechnet mit den Horen,
Ich denke fromm: „Gott gibt’s im Schlaf den Seinen!“

   Ich kann des Lebens banggeschäftig Rauschen,
   Dies laute Tun und Treiben nicht verstehn,
Und möcht‘ mein einsam Glück nicht drum vertauschen.

Laßt mich die stillen Pfade weiter gehn,
   Der Wolken und der Sterne Zug belauschen,
Und schönen Kindern in die Augen sehn!

Juni

Die Tage

Die Tage suchen einsam ihre Stühle
Und sitzen nieder ohne Blick noch Wort.
Der Abend weht. Sie schauern in der Kühle,
Verhüllen sich, stehn auf und schreiten fort.

Doch mancher war, der nicht gelassen blieb,
Der lachend, weinend durch die Stunden tollte,
Mich unbedacht in Gram und Jauchzen trieb
Und zuckend festhielt, als er wandern sollte.

Nur einer kam – im Kleid wie Gras und Sand
– Er trällerte ein rotes Liebeslied,
Nahm, da es Zeit war, lächelnd meine Hand
Und legt‘ ein kleines Licht hinein und schied.

Gertrud Kolmar

Mai

In Vorfreude auf das Shakespeare-Seminar am Bodensee

 

Sonett 78

So oft have I invoked thee for my Muse,
And found such fair assistance in my verse,
As every alien pen hath got my use,
And under thee their poesy disperse.

Thine eyes, that taught the dumb on high to sing,
And heavy ignorance aloft to fly,
Have added feathers to the learned’s wing,
And given grace a double majesty.

Yet be most proud of that which I compile,
Whose influence is thine, and born of thee:
In others’ works thou dost but mend the style,
And arts with thy sweet graces graced be;

But thou art all my art, and dost advance,
As high as learning, my rude ignorance.

So oft ich dich als Muse angefleht,
Gabst du mir Beistand, und so überreichen,
Dass jeder Dichter meinen Pfad jetzt geht
Und seine Kunst vertreibt in deinem Zeichen.

Dein Auge hat des Stummen Mund entsiegelt,
Zu höchstem Flug den dumpfen Sinn gelenkt,
Es hat des Meisters Schwingen selbst beflügelt
Und Anmut mit Erhabenheit beschenkt.

Dein höchster Stolz doch sei in meinen Tönen,
Die gänzlich dein sind, Kinder deiner Gunst;
Bei andern kannst du nur die Form verschönen
Und höchste Zierde leihen ihrer Kunst,

Doch meine ganze Kunst bist du! Du weihst
Zum Höchsten meinen ungelenken Geist.

(Übersetzung: Schlegel-Tieck)

Sooft ich dich als meine Muse rief
fand ich für meinen Vers bei dir Gehör
wie jeder, der in deinem Schatten lief
und sich bemühte, dass er dich betör.

Dein Anblick, der den Stummen selbst Gesang
und auch den Dummen hohen Flug verrät,
verleiht auch fremden Federn Flügels Rang,
und ihrer Anmut höchste Majestät.

Jedoch dein größter Stolz sei stolz auf mich,
auf meinen Vers, der dir entspringt so rein,
veredelst du auch fremder Feder Strich
und gehst voll Huld sehr huldvoll auf sie ein.

Denn du bist mein Genie, und deine Gunst
allein macht mir mein kunstlos Werk zu Kunst.

(Übersetzung: Karl Bernhard

April

Eva Strittmatter

Möglichkeit

Keinen kenne ich, der den Gesetzen entkam,
die unser Leben bestimmen.
Auch wer allen Willen zusammennahm,
musste stromabwärts schwimmen.

Noch jeden Resignation befallen,
wenn ihn das Alter ereilt.
Wie sehr er sich unterschied von allen:
das wars, was er mit ihnen teilte.

Ich kenne auch keinen versöhnlichen
Gedanken gegen den Zwiespalt des Lebens:
keinen Eingott, keinen Allgott, keine Ideologie.
Lang mühte ich mich vergebens,

ein Gesetz zu finden, das etwas erklärt
oder rechtfertigt wenigst in Teilen.
Doch was man lebend erlebt und erfährt,
lässt sich mit Glauben nicht heilen.

Auch mit Denken kaum. Doch will ich mich nicht
der Resignation ergeben.
Noch fühle ich als Verpflichtung das Licht
und als Möglichkeit das Leben.

März

Gesetzt den Fall, ihr habt ein Schaf gekränkt –
(„Gesetzt den Fall“ heißt „Nehmen wir mal an“) –
Gesetzt den Fall, es hat den Kopf gesenkt
und ist euch böse – ja, was dann?

Dann solltet ihr dem Schaf was Liebes sagen,
ihr könnt ihm auch dabei den Rücken streicheln,
ihr dürft nicht „Na? Warum so sauer?“ fragen,
ihr müsst dem Schaf mit Freundlichkeiten schmeicheln.

Sagt mir jetzt nicht: „Ich wohn doch in der Stadt,
wo soll ich da um Himmelswillen Schafe kränken?“
Ich gebe zu, dass das was für sich hat,
doch bitte ich euch trotzdem zu bedenken:

Ein gutes Wort ist nie verschenkt,
nicht nur bei Schafen, sondern überall.
Auch trefft ihr Schafe öfter, als ihr denkt.
Nicht nur auf Wiesen. Und nicht nur im Stall.

(Na wo denn noch?)

Robert Gernhardt

Februar

Über den Gartenzaun gesprochen

Der Ursprung von drei Weltreligionen
eine Dünendrift aus verminten Zonen –
Da empfiehlt es sich schon
in gemäßigten Ländern
durch ein selbstverfasstes Idyll zu schlendern.
Während ich – schaut nur hin –
meine Blümchen tränke,
wieder Mordsradau in
der Dreigöttersenke –
die ballern uns noch den Erdball entzwei
wegen ihrer dreierlei Rechthaberei.

Unverbindlicher Wink übern Gartenzaun:
Bloß nicht ewig den eigenen Götzen vertraun,
und sich statt an Gebetsbüchern
dumm zu lesen:
Hier sind Hacke,
Harke,
Schaufel und Besen,
und nach zwei drei Jahren erblüht für jeden
vor der eigenen Haustür ein Garten Eden.

Peter Rühmkorf

Januar

Zum Neujahr

An tausend Wünschen federleicht,
Wird sich kein Gott noch Engel kehren.
Ja, wenn es soviel Flüche wären,
Dem Teufel wären sie zu seicht.
Doch wenn ein Freund in Lieb und Treu
Dem andern den Kalender segnet,
So steht ein guter Geist dabei.
Du denkst an mich, was Liebes dir begegnet,
Ob dirs auch ohne das beschieden sei.

Eduard Mörike