Monatsgedicht
November
Der Herbst des Einsamen
Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle.
Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.
Ein reines Blau tritt aus verfallner Hülle;
Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.
Gekeltert ist der Wein, die milde Stille
Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.
Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel;
Im roten Wald verliert sich eine Herde.
Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;
Es ruht des Landmanns ruhige Gebärde.
Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel
Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde.
Bald nisten Sterne in des Müden Brauen;
In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden
Und Engel treten leise aus den blauen
Augen der Liebenden, die sanfter leiden.
Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,
Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden.
Georg Trakl
Oktober
Meeresstrand
Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmerung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.
Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.
Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.
Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.
Theodor Storm
September
George, Stefan (1868-1933)
Komm in den totgesagten park
Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.
Dort nimm das tiefe gelb – das weiche grau
Von birken und von buchs – der wind ist lau
Die späten rosen welkten noch nicht ganz
Erlese küsse sie und flicht den kranz
Vergiss auch diese letzten astern nicht
Den purpur um die ranken wilder reben
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.
August
Die Rosen schmecken ranzig-rot
es ist ein saurer Sommer in der Welt
Die Beeren füllen sich mit Tinte
und auf der Lammhaut rauht das Pergament
Das Himbeerfeuer ist erloschen
es ist ein Aschensommer in der Welt
Die Menschen gehen mit gesenkten Lidern
am rostigen Rosenufer auf und ab
Sie warten auf die Post der weißen Taube
aus einem fremden Sommer in der Welt
Die Brücke aus pedantischen Metallen
darf nur betreten wer den Marsch-Schritt hat
Die Schwalbe findet nicht nach Süden
es ist ein blinder Sommer in der Welt.
Rose Ausländer
Juli
Karl Wolfskehl (1869-1948)
Am Seder zu sagen (Anm. Seder ist der erste Abend des Pessachfestes)
Immer wieder, wenn vom Wanderstaube
müde, wir geruht in andrer Laube,
riss der andern Faust uns auf voll Drohn:
Ihr gehört nicht her, macht Euch davon!
Immer wieder.
Immer wieder wenn, in Werk und Taten,
Helfer Deuter wir zu andern traten,
ließen sie sich’s eine Zeit gefallen,
sperrten danklos dann uns Haus und Hallen.
Immer wieder, wenn wir uns vergaßen,
selig singend, mit den anderen saßen,
fiel in unsern Wein ein Tropfen Lauge,
traf uns böser Blick aus kaltem Auge.
Immer wieder, wenn wir gläubig trauten,
hart am Abgrund unsere Hütten bauten,
wankt‘ uralter Fels, zerbrach der First:
Merke, dass du nirgends heimisch wirst
immer wieder!
Immer wieder bei der Hölle Sieden
schreien wir zum Herrn, uns zu befrieden –
will dein Wort nicht Wurzeln in uns schlagen,
endlich die gelobten Früchte tragen?
Juni
Rast auf der Flucht nach Ägypten von Rainer Maria Rilke (1912)
Diese, die noch eben atemlos
flohen mitten aus dem Kindermorden:
o wie waren sie unmerklich groß
über ihrer Wanderschaft geworden.
Kaum noch daß im scheuen Rückwärtsschauen
ihres Schreckens Not zergangen war,
und schon brachten sie auf ihrem grauen
Maultier ganze Städte in Gefahr;
denn so wie sie, klein im großen Land,
– fast ein Nichts – den starken Tempeln nahten,
platzten alle Götzen wie verraten
und verloren völlig den Verstand.
Ist es denkbar, daß von ihrem Gange
alles so verzweifelt sich erbost?
und sie wurden vor sich selber bange,
nur das Kind war namenlos getrost.
Immerhin, sie mußten sich darüber
eine Weile setzen. Doch da ging
sieh: der Baum, der still sie überhing,
wie ein Dienender zu ihnen über:
er verneigte sich. Derselbe Baum,
dessen Kränze toten Pharaonen
für das Ewige die Stirnen schonen,
neigte sich. Er fühlte neue Kronen
blühen. Und sie saßen wie im Traum.
Mai
James Joyce
Saiten
Saiten im Feld, in den Höhn
Rührt der Lüfte Kuß,
Saiten mit süßem Getön
Im Weidicht am Fluß.
Liebe wandert am Wasser,
Spielend wunderbar,
Blasse Blumen auf ihrem Mantel,
Dunkles Laub im Haar.
Ihren Scheitel im Schreiten
Neigt die Träumerin,
Ihre Finger gleiten
Über die Laute hin.
Übersetzt von Kurt Erich Meurer
Strings
Strings in the earth and air
Maike music sweet;
Strings by the river where
The willows meet.
There’s music along the river
For love wanders there,
Pale flowers on his mantle,
Dark leaves on his hair.
All softly playing,
With head to the music bent,
And fingers straying
Upon an instrument.
April
Vorfrühling
Dunklere Schatten wirft schon das Licht und deutlicher schimmert
über dem Strome der Wald, aber die Luft ist noch still.
Noch hält das bräunliche Kleid Blüten und Blätter, und noch
hat sich der Falter verfrüht und muss zurück in die Nacht.
Noch regt die Erde sich nicht, und wie im Dunkel der Scheuer
schläft in ihr weiter das Korn, schlafend hob man es auf,
trug es in Säcken verhüllt und bettete schlafend es ein.
Und wir haben noch Zeit! Noch hebt des vergangenen Jahres
raschelndes Laub das Wachstum stürmischer Halme nicht auf,
noch peitscht der Regen das Feld nicht, noch dampft es nicht in der Sonne.
Noch ist ein ruhiger Tag uns vor den Stürmen gegönnt;
noch ist uns ferne, was bald kommen wird und erschüttern,
Schmerzliches schläft, und die Zeit faltet die Flügel und ruht.
Reinhold Schneider
März
An die Nachgeborenen
von Bertolt Brecht
I
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?
Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.)
Man sagt mir: iss und trink du! Sei froh, dass du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.
Ich wäre gerne auch weise.
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen.
Auch ohne Gewalt auskommen,
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen,
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
II
In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung
Als da Hunger herrschte.
Unter die Menschen kam ich zur Zeit des Aufruhrs
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit,
Die auf Erden mir gegeben war.
Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten.
Schlafen legte ich mich unter die Mörder.
Der Liebe pflegte ich achtlos
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit,
Die auf Erden mir gegeben war.
Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit.
Die Sprache verriet mich dem Schlächter.
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit,
Die auf Erden mir gegeben war.
Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in großer Ferne
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit,
Die auf Erden mir gegeben war.
III
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.
Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
Dabei wissen wir doch:
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es so weit sein wird
Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unserer
Mit Nachsicht.
Februar
Der Winter
Wenn sich das Jahr geändert, und der Schimmer
Der prächtigen Natur vorüber, blühet nimmer
Der Glanz der Jahreszeit, und schneller eilen
Die Tage dann vorbei, die langsam auch verweilen.
Der Geist des Lebens ist verschieden in den Zeiten
Der lebenden Natur, verschiedne Tage breiten
Das Glänzen aus, und immer neues Wesen
Erscheint den Menschen recht, vorzüglich und erlesen.
Friedrich Hölderlin (1770-1843)
Januar
Der Januar
Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
Der Weihnachtsmann ging heim in seinen Wald.
Doch riecht es noch nach Krapfen auf der Stiege.
Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
Man steht am Fenster und wird langsam alt.
Die Amseln frieren.
Und die Krähen darben.
Und auch der Mensch hat seine liebe Not.
Die leeren Felder sehnen sich nach Garben.
Die Welt ist schwarz und weiß und ohne Farben.
Und wär so gerne gelb und blau und rot.
Umringt von Kindern wie der Rattenfänger,
tanzt auf dem Eise stolz der Januar.
Der Bussard zieht die Kreise eng und enger.
Es heißt, die Tage würden wieder länger.
Man merkt es nicht. Und es ist trotzdem wahr.
Die Wolken bringen Schnee aus fremden Ländern.
Und niemand hält sie auf und fordert Zoll.
Silvester hörte man’s auf allen Sendern,
dass sich auch unterm Himmel manches ändern
und, außer uns, viel besser werden soll.
Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
Und ist doch hunderttausend Jahre alt.
Es träumt von Frieden. Oder träumt’s vom Kriege?
Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
Und stirbt in einem Jahr. Und das ist bald.
Erich Kästner