Lektüreseminar in Bad Wildbad

Lektüreseminar in Bad Wildbad

Seminar I: Sonntag, 3. – Donnerstag, 7. November 2024
und Wiederholungsseminar: Freitag, 8. – Dienstag, 12. November 2024

Georg Büchner (1813-1837)

 

Prof. Dr. Hans-Richard Brittnacher, Berlin

Nach dem Ende der Revolutions- und Befreiungskriege (Wiener Kongress 1815), dem Ende der romantischen Epoche ebenfalls 1815, dem Tode Hegels im gleichen Jahr und schließlich auch noch nach dem Tode Goethes (1832) müssen die Dichter Deutschlands, die in den 30er und 40er Jahren den Ton angeben und den Markt beherrschen, sich eingestehen, dass ihre literarischen Leistungen nicht auf der Höhe der früheren Epoche stehen. In der französischen Literatur beginnt nach der romantischen Periode rasch eine neue Weltliteratur (mit den Romanen Balzacs und Flauberts, mit der Poesie Baudelaires und Rimbauds), in England reißen sich die Leser die Romane von Charles Dickens aus der Hand – in Deutschland aber dominiert literarische Nachrangigkeit die Epoche. Seine große Diagnose des Zeitalters in Romanform hat Karl Immermann „Die Epigonen“ genannt. Epigonalität charakterisiert in der Tat die Literatur der Zeitgenossen, die sich nicht aus dem Schatten der großen Autoren der Kunstperiode lösen können. Zwar geht, wie Heinz Schlaffer boshaft bemerkte, die literarische Produktion weiter, aber sie kommt nicht voran: behagliche Gelehrsamkeit, betuliche Bildungspflege, eine verzagte politische Abstinenz dominieren die Prosa der Zeit. Die literarischen Feldzüge des Neuen Deutschland („Vormärz“) sind, so wichtig sie im publizistischen Meinungskampf waren, literarisch zumeist uninteressant. In der grauen, greisenhaften Lyrik der Zeit glühen gelegentlich noch ein Gedicht Mörikes oder die frechen Spottverses Heines auf – ansonsten gähnt die Literatur dieser Zeit mehr als dass sie atmet.
„Nur die Jugend hat Genie“, hat Schopenhauer mal gesagt, und wenn dies auf einen der vielen frühverstorbenen Dichter der deutschen Literatur zutrifft, dann auf Georg Büchner, der auch promovierter Philosoph und Mediziner war und sich möglicherweise bei seiner Forschung im Labor mit Typhus infiziert. Er starb mit nur 23 Jahren im Exil in Zürich, wohin er, nach einer Station in Straßbourg, als steckbrieflich gesuchter Autor geflohen war. Mit der Gründung der „Gesellschaft für Menschenrechte“ in Gießen und dem Pamphlet des Hessischen Landboten, das mit dem Schlachtruf „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ beginnt, hatte er sich der repressiven Obrigkeit in Hessen verdächtig gemacht. In den wenigen Jahren, die er aktiv war, in denen er naturwissenschaftliche Schriften publizierte, zwei Dramen Victor Hugos übersetzte, entstand sein schmales, aber die Literatur des 19. Jahrhunderts revolutionierendes Werk.
Mit seinen Texten legte Büchner Feuer an die literarischen Gattungen, In seiner Prosa fand er einen Ton, den man bis dahin noch nicht gehörte hatte, er warf einen Blick auf die Welt, wie es zuvor noch keiner getan hatte, dichtete die traurigsten und die groteskesten Dialoge im deutschen Drama. Kein Zufall ist es, dass er sich nicht an der Klassik und nicht am Idealismus orientierte, sondern am Sturm und Drang. Jakob Michael Reinhold Lenz, einen der interessantesten und unglücklichsten Vertreter dieser Epoche, machte er zum Held seiner Erzählung, die durch den kunstvoll gehandhabten Perspektivenwechsel dem Leser den Wahnsinn, in den Lenz abgleitet, gleichsam hautnah empfinden lässt. Der letzte Satz dieser Erzählung ist der vielleicht traurigste der ganzen deutschen Literaturgeschichte: „So lebte er dahin“. In seinem Drama Dantons Tod zeigt Büchner den „gräßllichen Fatalismus der Geschichte“, den er schon früher in einem Brief an seine Braut Minna Jaegle beklagt hatte. An den prominentesten Vertretern der französischen Revolution, Danton, Robespierre, St. Just und Demoulins, teils Eiferer, teils gelangweilte Bonvivants, aber auch an den sie liebenden Frauen, Marion oder Julie, zeigt der Autor, wie die Geschichte jene verschlingt, die angetreten waren, sie verändern zu wollen und jetzt selbst Opfer des Blutrauschs werden, mit dem sie einst die Macht herausgefordert hatten. Das Fragment gebliebene Drama Woyzeck über den Mord des Soldaten und Friseurs Woyzeck an seiner untreuen Geliebten Marie zählt – auch wenn wir kaum wissen, in welcher Reihenfolge die erhalten gebliebenen Szenen zu lesen bzw. zu spielen sind – zu dem Ungeheuerlichsten und Aufregendsten, was die dramatische Literatur des 19. Jahrhunderts zu bieten hat.

Lange vor Gerhart Hauptmann wird Dialekt gesprochen, werden groteske, kabarettreife Szenen aufgeführt, wird dramatisch gestaltet, was Armut bedeutet – zu einer Zeit, als der Literatur dafür noch die Worte fehlten. Schon in den 1840 Jahren gab es medizinische Experimente an Menschen, die sich dafür hergeben mussten. Der Held ist keiner, nur ein bitterarmer Tagelöhner, der seiner Sinne nicht mächtig ist und auch nicht mächtig sein kann, und seine physische Ausbeutung den finsteren Machenschaften ominösen Freimaurern zuschreibt, die unter der Erde leben. Seine Geliebte Marie ist keine tugendhafte Heldin, wie sie das Bürgerliche Trauerspiel liebte, sondern eine sinnliche Frau, die statt des armen Tropfes an ihrer Seite einem Tambourmajor mit goldbetresster Uniform liebt, um wenigstens einmal glücklich sein zu können.
Nach seinem frühen Tod im Alter von 23 Jahren wurde Georg Büchner von seinem Freund und Förderer Karl Gutzkow ein „Kind der neuen Zeit“ genannt, aber erst das Ende des 19. Jahrhundert erkannte seine Genialität und Modernität. Noch heute erlauben es die Texte Büchners keinem, gleichgültig zu bleiben. Die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat den wichtigsten Preis, den sie zu vergeben hat, nach ihm benannt: sie hat gut daran getan.
Wir lesen die Flugschrift Der Hessische Landbote, die Novelle Lenz, das Drama Dantons Tod und schließlich das Fragment gebliebene Dama Woyzeck. Büchners Werke sind in vielen Ausgaben, auch preiswerten, auch antiquarisch, greifbar. Wir sollten, wenn es möglich ist, die einbändige Gesamtausgabe der Werke Büchners im DTV-Verlag zugrunde legen oder wahlweise die Texte, wie sie als Taschenbücher in der Suhrkamp Basis-Bibliothek (SBB) zur Verfügung stehen: Lenz SBB 4, Dantons Tod SBB 89, Woyzeck SBB 94.

Der Dozent:
Prof. Dr. Hans Richard Brittnacher lehrte Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Ästhetik des Phantastischen, die Darstellung von Minderheiten, die Literaturgeschichte der Goethezeit, Literatur und Religion und die Abenteuerliteratur. Wichtige Veröffentlichungen: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/Main 1994; Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst. Göttingen 2012. Seenöte, Schiffbrüche, feindliche Wasserwelten – Ozeanische Schreibweisen der Gefährdung und des Untergangs, hg. von Hans Richard Brittnacher und Achim Küpper, Göttingen 2018.

Seminarzeiten:
1. Tag 18.00: Abendessen, 19.30-21.00
2. und 4. Tag 09.30-10.30/11.00-12.00 und 16.00-18.00
3. Tag 09.30-10.30/11.00-12.00
5. Tag 09.30-10.30/11.00-12.00

Kursgebühr: 280,– €

Die Teilnehmerzahl ist auf 18 Personen pro Seminar beschränkt.
Mindestteilnehmerzahl sind 12 Personen.

Anmeldung:
Hotel Bergfrieden
75323 Bad Wildbad
Baetznerstr. 78
Tel: (07081) 17040
empfang@hotelbergfrieden.de

Hotel Rhein-Residenz