Aufbruch ins Unendliche: Herman Melvilles Moby-Dick
Dr. Tim Lörke, Berlin
Das 19. Jahrhundert gilt als dasjenige, in dem sich die bürgerliche Gesellschaft in der Weise etablierte, die noch heute bestimmend ist. Darauf reagiert die Literatur mit den großen Gesellschaftsromanen Balzacs, Dickens‘, Flauberts, Turgenevs, Fontanes, Kellers. Romane, in denen die Feinmechanik sozialer Verhältnisse angeschaut wird, in denen Frauen und Männer um ihre Stellung und ihre Bedeutung in ihrer sozialen Klasse ringen. Im 19. Jahrhundert erscheint aber auch ein Roman, der nur unter Männern spielt, nicht in der Gesellschaft, sondern auf hoher See auf einem Schiff. Die Pequod und ihre Besatzung unter dem Kommando Kapitän Ahabs ist auf der Jagd nach Walen und dem Wal: Moby-Dick. Mensch-Sein erscheint in Herman Melvilles Roman reduziert auf die existentielle Situation des Ausgeliefert-Seins; das unendliche Meer ist die grenzenlose Gegenwelt zu den sozialen Herausforderungen in den Städten an Land. Moby-Dick ist die Ausnahme in der Literatur des 19. Jahrhunderts, aber der Roman erzählt viel mehr davon, was es heißt, Mensch zu sein, als es die übrigen Romane vielleicht tun: weil er Menschen in der Ausnahmesituation ihrer Begegnung mit dem Unbegrenzten, dem Unendlichen, dem Erhabenen zeigt. Und noch mehr ist Moby-Dick: Die Selbstvergewisserung einer jungen Nation, die ihren Blick auf das Grenzenlose richtet. Melvilles Roman ist die erste „great American novel“, der erste große amerikanische Roman – und damit der erste Beitrag der USA zur Weltliteratur.
Moby-Dick ist viele Bücher in einem: Abenteuergeschichte; naturhistorische und mythologische Abhandlung über den Wal, gerade auch in seiner biblischen, poetisch modernisierten Bedeutung; moralphilosophische Reflexion über die Natur des Menschen, eines Wesens mit Tiefgang und voller Abgründe; eine anthropologische Bestandsaufnahme, die den Menschen zeigt als das symbolische Bedeutung generierende Tier. Viele Interpretationen sind dem Roman gewidmet worden. Sie alle zeigen sich, wie Ahabs Jagd auf Moby-Dick, auf schwankendem Element; der Sinn, wie der Wal, kommt jäh an die Oberfläche, erschreckend und beglückend zugleich, um sogleich wieder abzutauchen und die Leserinnen und Leser allein treiben zu lassen auf der Oberfläche der Wörter.
Das Seminar erarbeitet eine erste Interpretation des Romans, die die verschiedenen Bedeutungshorizonte einbindet. Zugleich wird darauf geachtet, wie der Roman komponiert oder gebaut ist.
Textgrundlage:
Der Roman liegt in einer Vielzahl von deutschen Übersetzungen vor. Wer keine Ausgabe besitzt, dem sei die Übersetzung von Matthias Jendis empfohlen, die zunächst bei Hanser erschien (gebundene Ausgabe, € 36,-), mittlerweile aber auch bei dtv in einer günstigen Taschenbuchausgabe vorliegt (€12,90).
Der Dozent:
Dr. Tim Lörke, PostDoc an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule der Freien Universität Berlin. Studium der Germanistik und Anglistik an den Universitäten Heidelberg und Warwick. 2002-2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Faust-Archiv Knittlingen. 2006-2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. 2009-2015 wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter am Institut für deutsche und niederländische Philologie der Freien Universität Berlin.
Seminarzeiten:
1. Tag: 18.15: Abendessen, 19.30-21.00
2. Tag: 09.30-10.30/11.00-12.00 und 16.00-18.00
3. Tag: 09.30-10.30/11.00-12.00
4. Tag: 09.30-10.30/11.00-12.00 und 16.00-18.00
5. Tag: 10.00-12.00
Kursgebühr: € 170.-
Hotel Graf Bentinck
Dauenser Straße 7
26316 Varel-Dangast
Tel. 04 451/139-0
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