Bad Wildbad im Schwarzwald
Sonntag, 2. – Freitag, 7. November 2025
Europäische Kunstmärchen
Prof. Dr. Albert Gier, Heidelberg
Dieses Seminar geht einen Tag länger als üblich.
Geplant ist ein Ausflug zum Märchenpfad auf dem Sommerberg
und der Besuch des Flößer-Museums in Calmbach.
Wir werden also etwas eintauchen in die Märchenwelt des
Nordschwarzwaldes.
Lassen Sie sich überraschen.
Volksmärchen (die ursprüngliche, ältere Form der Märchen) werden nicht gelesen, sondern erzählt. Und: die mündlich verbreiteten Märchen waren nicht für Kinder, sondern für Erwachsene bestimmt. In bäuerlichen Gemeinschaften spannen die Frauen im Winter, die Wolle ihrer Schafe zu Garn; es wäre zu eintönig gewesen, wäre jede zu Hause allein am Spinnrad gesessen, deshalb traf man sich in der „Spinnstube“. Dort wurde zweifellos der neueste Dorfklatsch durchgehechelt; war das erledigt, waren alle dankbar, wenn eine der Frauen (oder auch ein Mann) ein Repertoire interessanter Geschichten hatte und auch spannend zu erzählen verstand. In den Geschichten spielten zweifellos auch Erotik und Sexualität eine Rolle. Außerdem sind Märchen, vor allem Volksmärchen, Wunschdichtung: Die im Leben zu kurz Gekommenen identifizieren sich mit den Helden, die ihr Glück machen, obwohl sie das eigentlich nicht „verdienen“: Niemand wird behaupten wollen, daß der arme Müllersbursch in der Geschichte vom Gestiefelten Kater, der offenbar nicht allzu klug ist (sonst hätte er sich von seinen Brüdern bei der Teilung des väterlichen Erbes nicht so übers Ohr hauen lassen!), es „verdient“ hat, die Prinzessin zur Frau zu bekommen und nach dem Tod seines Schwiegervaters König zu werden! Sein Glück verdankt er dem Kater, der dabei als veritabler Hochstapler agiert! Die Grimms haben dieses Märchen in die erste Auflage ihrer Sammlung aufgenommen und es dann weggelassen – sicher, weil sie bemerkt haben, daß es nur in Frankreich, nicht aber im deutschen Sprachraum heimisch war, aber wohl auch, weil sie ihren jungen Lesern die Lehre vermitteln wollten, daß nicht Winkelzüge, sondern nur Treu und Redlichkeit zum Erfolg führen. Die Begeisterung für die Überlieferungen der bildungsfernen, im wesentlichen schriftlosen Schichten der Gesellschaft wurde im deutschen Sprachraum wesentlich von Johann Gottfried Herder (1744-1803) gefördert, der sich u.a. mit Volksliedern beschäftigte. Die junge Generation der Romantiker hat sich unter seinem Einfluß intensiv mit dem Märchen auseinandergesetzt.
Als literarische Schöpfung eines namentlich bekannten Autors, dessen Personalstil und poetologische Positionen auch seine Märchendichtungen prägen, unterscheidet sich das Kunstmärchen grundlegend vom Volksmärchen: Der Einfall, der der Geschichte vom gestiefelten Kater zugrunde liegt – daß ein sprechender Kater seinem Herrn zu Glück und Erfolg verhilft – geht wohl auf einen anonymen Erzähler zurück; aber ob der Kater in dessen Version dem König nur Rebhühner als Geschenk des angeblichen Marquis de Carabas überbringt, oder ob er den ‚Marquis‘ auch von den Leuten des Königs vor dem drohenden Tod durch Ertrinken retten läßt, ihn so mit der Prinzessin zusammenbringt, und ob er ihm schließlich zum Schloß des Oger (des Menschenfressers) verhilft, können wir nicht wissen. Dagegen ist die Textgestalt der Kunstmärchen in der Regel genau fixiert.
Ausgehend von repräsentativen Beispielen aus der Zeit vom 17. bis zum 19. Jahrhundert wollen wir verschiedene Spielarten des Kunstmärchens aus Deutschland, Italien, Frankreich, Russland und England vorstellen.
Nach einem Einführungsvortrag zum Verhältnis von Kunstmärchen und Volksmärchen soll zunächst das Verhältnis von Rahmenerzählung und Einzelmärchen erörtert werden.
Den weiteren Ablauf siehe unten.
Lektüre:
Die Märchen gibt es in verschiedenen Einzelausgaben. ➤ siehe Rückseite
Zur Vorbereitung wird empfohlen:
Volker Klotz, Das europäische Kunstmärchen.
Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance zur Moderne
Der Dozent:
Prof. Dr. Albert Gier war von 1988 bis 2016 Professor für Romanische Philologie (Literaturwissenschaft) an der Universität Bamberg und ist seitdem im Ruhestand. Er ist Mitglied der deutschen Marcel Proust-Gesellschaft, für die er 2009 in Wien eine Tagung zum Thema „Marcel Proust und die Musik“ organisierte.
Forschungsschwerpunkte: Französische Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts; italienische Literatur des 14. bis 18. Jahrhunderts; der Text im Musiktheater (Libretti von Opern und Operetten, hauptsächlich italienische, französische und deutsche Texte von den Anfängen bis zur Gegenwart). Er ist auch als Übersetzer von italienischen Libretti (vor allem für die „Innsbrucker Festwochen der Alten Musik“) tätig und schreibt Kritiken von Opern- und Operettenaufführungen für Zeitungen, Zeitschriften und Internet-Foren.
Siehe auch ➤ (www.literatur-theater-libretto.de)
Seminarzeiten:
Sonntag:
17.00 – 18.00 Einführungsvortrag: Volksmärchen und Kunstmärchen
19.30 – 20.30 Rahmenerzählung: Das Erzählen erzählen
(orientalische Sammlungen; Boccaccio, Decameron; Basile, Pentamerone)
Montag:
09.30 – 11.00 Basile, Pentamerone: Stoff; Sprache und Stil, ➤ Märchensammlung, Edition Falkenberg TB
11.00 – 12.00 Charles Perrault, Geschichten der Mutter Gans, ➤ Sämtliche Märchen, Reclam
16.00 – 18.00 Mme Leprince de Beaumont, La Belle et la bête, ➤ Große Klassiker zum kleinen Preis, Bd. 205
und die französischen Feenmärchen im 18. Jh
Abends: Film La Belle et la bête (Cocteau)
Dienstag:
09.30 – 11.00 Die Märchen aus Tausendundeiner Nacht: Rezeption in Frankreich und Europa
12.00 Fahrt auf den Sommerberg. Dort ein Imbiss, dann auf den Baumwipfelpfad
mit anschließendem Märchenpfad.
17.00 – 18.00 Christoph Martin Wieland, Märchen aus Das Hexameron von Rosenhain (Schwerpunkt: Die Entzauberung), ➤ www.projektgutenberg.org/wieland/rosnhain/rosen3a.html
Fortsetzung am Abend bei Bedarf
Mittwoch:
09.30 – 10.30 E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf, ➤ reclam
11.00 – 12.00 Friedrich de la Motte Fouqué, Undine, ➤ reclam
16.00 – 18.00 Clemens Brentano, Rheinmärchen, ➤ Albatros Verlag oder
www.projekt-gutenberg.org/brentano/rheinm/rheinm.html
Abends: Vortrag (mit Musikbeispielen): Undine im Musiktheater
Donnerstag:
9.30 – 12.00 Wilhelm Hauff, Das kalte Herz, ➤ reclam
Nachmittags ins Flößermuseum in Wildbad-Calmbach und/oder in das Schloß Neuenbürg mit der Darstellung von „Das kalte Herz“ (geplant)
Abends: Film: Das kalte Herz
Freitag:
09.30 – 11.00 Alexander Puschkin, Das Märchen vom Zaren Saltan,
➤ Drei russische Märchen. Lunata Verlag
11.00 – 12.00 Oscar Wilde, Der glückliche Prinz, ➤ reclam
Die Literaturangaben für die Märchen sind lediglich unverbindliche Hinweise. Jede andere Ausgabe ist auch gut.
Kursgebühr: € 320.00 inkl. Eintritt Baumwipfelpfad (s.a. literaturferien.de)
Die Teilnehmerzahl ist auf 20 Personen beschränkt. Mindestteilnehmerzahl sind 12 Personen.