Philosophisches Lektüreseminar in der Waldhofakademie Freiburg

Wir möchten Sie einladen zu einem literarischen Spaziergang durch die Länder der Europäischen Union:

Jedes Jahr ein neues Land, jedes Jahr eine neue Entdeckung.

Do. 16. – So. 19. Januar 2025

 

Tour d’horizon – Eine Einführung

mit Prof. Dr. H. R. Brittnacher, Berlin

 

Als der olympische Göttervater Zeus die schöne phönizische Prinzessin Europa am Strand mit ihren Freundinnen beim Spiel erblickt, bedient sich die lüsterne Gewalt des Mannes seiner göttlichen Gabe zum Gestaltwandel, um ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Als schneeweißer Stier nähert er sich der Prinzessin, die, entzückt von dem zutraulichen, majestätischen und doch zahmen Tier, ihn streichelt, seine Hörner mit Blumengirlanden umkränzt und sich auf seinen Rücken niederlasst. Zeus hat leichtes Spiel, schwimmt mit der kostbaren Beute auf seinem Rücken übers Meer, und in Kreta gebiert sie ihm drei Söhne, die über Europa herrschen werden.

Der Ursprungsmythos Europas ist eine Geschichte erzwungener oder erschlichener Vereinigung. Lange – und bis heute unentschieden – ist die Frage nach der Bewertung des göttlichen Handelns, die von Raub, Vergewaltigung, Entführung bis zu Verführung reicht. Im Bild der Prinzessin jedoch, die sich liebevoll ihrer Söhne annimmt, gewinnt die mythische Erzählung vom Frauenraub eine versöhnliche Wendung. Gleichwohl hält die mythische Geschichte von der geraubten Prinzessin, die zur liebevollen Mutter Europas wird, in der Konfiguration ihrer drei Elemente Liebe, Raub und Versöhnung die Erinnerung an die Gewalt präsent. Die Geschichte Europas von der antiken Weltmacht Rom über die Völkerwanderungen, das mittelalterliche Papsttum, die Glaubenskriege der frühen Neuzeit bis zu dem blutigen 20. Jahrhundert, man denke zuletzt nur an die Bürgerkriege in den südslawischen Nachfolgestaaten, erinnern daran, wie prekär und brüchig diese Konstellation geblieben ist.

Die Gründung der Europäischen Union war ein idealistisches Unternehmen, das gigantische verwaltungsjuristische Hürden zu nehmen hatte, aber endlich die politische Einheit regionaler und nationaler Vielfalt in Aussicht stellte. Die geringe Größe des Kontinents steht im Kontrast zu seinen Differenzen, die folkloristisch reizvoll sein mögen, aber den politischen Alltag immer wieder vor neue Herausforderungen stellen. Der gemeinsame Bürgersinn, der die Bewohner eines geeinten Europas auszeichnen soll, wird immer wieder von den Ressentiments der Länder gegen ihre Nachbarländer herausgefordert. Wo, wenn nicht in der Literatur, die dem Geist der Zivilisation, der Schrift, der Kultur, des Verständnisses verpflichtet ist, zeigen sich Differenz und Nähe so deutlich, dass im Gespräch darüber Verständigung und Gemeinsinn möglich werden? Wenn die schöpferische Leidenschaft der Dichterinnen und Dichter der unterschiedlichen Länder, so gibt Peter Sloterdijk zu bedenken, den lieb gewordenen Vorurteilen den Rang ablaufen, hat die Idee des Gemeinsinns gewonnen.

Nirgends findet sich die Erfahrung der Andersheit, der verblüffenden oder auch augenöffnenden Fremdheitserfahrung, so ausgeprägt wie in Reiseberichten – dazu müssen die Autoren nicht einmal in fremde Welten aufbrechen, gerade die Reise in benachbarte Länder offenbart oft Unterschiede, die es erlauben, über das Glück der Andersheit nachzudenken und eine neue Perspektive auf sich selbst zu gewinnen. Am Beginn der literarischen Exkursionen in unsere europäischen Nachbarländer stehen der Essay Italienische Ausschweifungen von Hans Magnus Enzensberger, den er in einer Ach Europa überschriebenen Sammlung von Reiseberichten veröffentlicht hat, sowie die Reise des Österreichers Karl-Markus Gauß in den Osten der Slowakei, Die Hundeesser von Svinia. Hier geht es nicht nur um den eigenwilligen Blick der Slowaken auf die Welt und ihre neue Heimat Europa, sondern auch um den Blick auf eine in ganz Europa verbreitete Minderheit, die Roma, die keinen eigenen Staat hat, wohl aber eine Stimme im Europarat. In Svinia leben sie auf Müllkippen. Den Abschluss der Expedition in europäische Schauplätze der Literatur bildet die Lektüre ausgewählter Gedichte, die um gemeinsame Themen wie Liebe oder Stadt kreisen und dabei die Vielfalt und Gemeinsamkeit literarischer Perspektiven in Europa verdeutlichen. Die Gedichte werden als Reader zur Verfügung gestellt.

Literatur:
H.M. Enzensberger: Ach Europa! Suhrkamp Taschenbuch;
K.-M. Gauß: Die Hundeesser von Svinia. Paul Zsolnay Verlag

Der Dozent:
Prof. Dr. Hans Richard Brittnacher lehrte Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Ästhetik des Phantastischen, die Darstellung von Minderheiten, die Literaturgeschichte der Goethezeit, Literatur und Religion und die Abenteuerliteratur. Wichtige Veröffentlichungen: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/Main 1994; Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst. Göttingen 2012. Seenöte, Schiffbrüche, feindliche Wasserwelten – Ozeanische Schreibweisen der Gefährdung und des Untergangs, hg. von Hans Richard Brittnacher und Achim Küpper, Göttingen 2018.

Seminarzeiten:

  1. Tag 18.00: Abendessen, 19.00-21.00
  2. und 3. Tag 09.30-10.30/11.00-12.00 und 16.00-18.00
  3. Tag 09.30-10.30/11.00-12.00

Kursgebühr:
Die Kosten entnehmen Sie bitte der homepage des Waldhofes.

 

Dieses Seminar ist der Auftakt einer Reihe von Seminaren, die sich mit der Gegenwartsliteratur unserer europäischen Nachbarn beschäftigt.

Noch immer ist die Europäische Union ein Projekt der Eliten. Zwar war seit Beginn des Prozesses der europäischen Integration von den Bürgern und der europäischen Öffentlichkeit immer wieder die Rede. Doch einen europäischen Bürgersinn sucht man bisher vergebens. Das wird überdeutlich in Krisenzeiten, die eine über die nationalen Grenzen hinausreichende Solidarität herausfordern.

(http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/europas-zukunft/jutta-limbach-ueber-europas-zukunft-es-gibt-keine-europaeische-identitaet-11868798.html)

Wie soll dieser gemeinsame Bürgersinn entstehen, von dem Jutta Limbach spricht, wenn nicht dadurch, dass wir mehr erfahren über unsere Geschichte und unsere Geschichten.

Womit beschäftigen sich unsere Nachbarn in ihrer Literatur? Was wird dort erzählt? Und wie wird erzählt? Was erfreut die Leser, was ärgert sie, worüber wird gestritten?

Was wissen wir über den „französischen Leser“, das „italienische Verlagswesen“, die „niederländische Erzählfreude“, die „polnischen Intellektuellen“? Gibt es ureigene „tschechische Themen“? Oder kennen wir „griechische Lyrik“? Gibt es Krimis in Slowenien?

Wir möchten Sie einladen zu einem literarischen Spaziergang durch die Nachbarländer.

 

Beginnen werden wir im August mit Polen.
28. bis 31.8.2025

 

 

Anmeldung:
Waldhof e.V.- Akademie für Weiterbildung
Im Waldhof 16
D-79117 Freiburg-Littenweiler
Tel.: +49 (0)761 – 67134
Fax: +49 (0)761 – 66584
www.waldhof-freiburg.de

In Zusammenarbeit mit:
Annegret Wolfram, 0711-2367813, www.literaturferien.de

Waldhof e.V.- Akademie für Weiterbildung